Oradour – Frankreich – das Lebensthema der Autorin Barbara Collet

Oradour-sur-Glane liegt in Frankreich, 23 km von Limoges entfernt. Das unbewohnte Dorf gelangte zu einer traurigen Berühmtheit. Am 10. Juni 1944 ermordete die Waffen-SS fast das gesamte Dorf. Die Männer wurden zusammen getrieben und erschossen. Frauen und Kinder waren Opfer in der Kirche, die verbrannte. Der Anlass war wie immer nichtig. Die Waffen-SS benötigt keine Legitimation. Unter den Mördern befanden sich auch Elsässer, zwangsrekrutiert, die meisten keine Mörder. Einer von ihnen rettete Menschenleben, weil er den Bewohnern riet, Fenster und Türen zu schließen, die Ohren auch, und im Haus zu bleiben, bis der Horror vorbei sei. Einer der Zeugen ist ein Freund. Er war sieben Jahre alt und erlebte dieses Drama, ohne in dem Moment zu begreifen, was da geschah. Mein Mann, Ethnologe in Paris, hatte mir verboten, den Freund nach Oradour zu befragen. Man munkelte, dass er der traumatisierte Junge sei, der zusah, wie seine Freunde in den Flammen umkamen. Wir lernten uns besser bei einem gemeinsamen Besuch in der Stiftung von Madame Anne Gruner Schlumberger, der großen Mäzenin des Landes, 1986 in Südfrankreich kennen. Aber auch in dieser bereits recht privaten Situation hatte ich nicht den Mut, die Frage nach Oradour zu stellen.

Dreißig Jahre später wagte ich ihn zu fragen. Besonders der Umstand, dass ich in Deutschland geboren bin, erschwerte meine Anfrage. Die Mail, die ich von ihm bekam, darf ich zum Teil im Vorwort meines Buches veröffentlichen. Er möchte aber namenlos bleiben, damit die Medien nicht über ihn herfallen und lästige Fragen stellen.

mit freundlicher Genehmigung von Martin Graf, , Mitherausgeber von EyeCom

Mit freundlicher Genehmigung von Martin Graf (www.eye-com.net)

Eine seltsame Verknüpfung unserer Biographien. 1980, in einem Dokumentarfilm, gezeigt vom Kommunalen Kino in Hamburg, saßen wir erstarrt vor den Bildern des toten Dorfes und hörten erstmals von der Geschichte. Trümmerblumen wurden in langen Einstellungen und Großaufnahmen ohne Ton kommentarlos minutenlang gezeigt. Totenstille im Publikum, das den Zusammenhang wenig später erfuhr. Dieser Film, das erinnere ich, stellte einen Zusammenhang zu Anna Seghers „Transit“, dem Exilroman, her. Im Literaturunterricht hatte ich bereits Passagen des Romans eingesetzt, um den Schülern eine Exilsituation vor Augen zu führen. Je mehr ich mich damit beschäftigte, desto mehr stieg mein Bedürfnis, Deutschland zu verlassen, um selber eine Exilsituation zu erleben. Wenngleich eine sehr privilegierte. Immerhin haben wir seit 1945 keinen Krieg zwischen Frankreich und Deutschland, und dies nach drei Kriegen, die so vielen Menschen das Leben kostete. Mein zweiter Schriftsteller wurde Ernst Weiß, der in Paris ein beklagenswertes Dasein als geflüchteter Jude aus Prag fristete und mit der Seghers sowie mit vielen anderen Kollegen befreundet war. Er verübte beim Einmarsch der Deutschen Selbstmord. Ich fand das Dokument über seinen Tod im Krankenhaus in Paris. Er hatte sich vergiftet. Den Koffer, von dem die Seghers in ihrem „Transit“ Roman schreibt und vermutlich Ernst Weiß zuzuschreiben ist, habe ich nicht gefunden, obwohl ich viele Hotels in der Nähe des Place Odéon befragte. Vielleicht war er doch nur eine Metapher. Statt dessen fand ich die „Bibiothèque de la Liberté“ in der Bibliothèque Nationale. Zufällig. Auf der Suche nach Materialien für meine Arbeit stieß ich auf seltsame Karteikarten, von denen sich herausstellte, dass die damalige Bibliothekarin beim Einmarsch der Deutschen 1940 in aller Eile einen LKW organisiert hatte, um den Bestand zu retten. Diese Information hatte sie seltsamerweise für sich behalten. Die Exponate waren Spenden deutscher Schriftsteller, die den Kulturschatz vor den Flammen der Nazis gerettet hatten. Leider war kein Gespräch mit ihr möglich. Auch nach so vielen Jahren wollte sie nicht mit einer Deutschen reden.

Oradour wurde mein Leitmotiv. Ein Sinnbild der Gewalt im Zweiten Weltkrieg, der Ohnmacht von Zivilisten gegenüber Mördern, und: Was mich seit Jahren thematisch nicht loslässt, ist die Frage, ob die Täter zur Rechenschaft gezogen wurden. So entstand die Idee für den Roman, der im Januar erscheinen wird. Paris im Jahre 1983 war für Deutsche kein Zuckerlecken. Das Misstrauen saß tief in den Herzen der Franzosen. Häufig hielt man mich für eine Amerikanerin, einige meinten sogar, ich sähe Barbara Streisand ähnlich. Das war in Ordnung, denn es befreite mich von Rechtfertigungen. Ein Nachbar, den Zettel bewahrte ich auf, schrieb mir, eine Dichterin aus der Welt der Zivilisation sei willkommen. Er klebte dieses Wort an mein Auto, ein grüner Citroen GS mit Hydraulic und Hamburger Nummer. Ein anderer schmierte Fäkalien an meinen Türgriff. Paris war schwierig. Meine Situation änderte sich, als ich meinen Mann traf und über ihn, das „richtige“ Frankreich kennenlernte, Bei aller Liebe zu dem Land behielt ich dennoch eine Dosis Kritikvermögen, vor allem nach der Lektüre „VICHY auschwitz“ von Serge Klarsfeld (1983). Das Buch war eine Sensation. Es zeigte die Schuldhaftigkeit des Vichy Regimes, ein Tabu Thema wurde gebrochen. In einem Streitgespräch, das in einem renommierten Restaurant in Paris mit einem bekannten Ethnologen stattfand, wurde die Frage der Schuld heftig diskutiert. Das Publikum teilte sich in zwei Gruppen. Die eine war für die Kritik an Vichy, die andere sah die Schuld nur bei den Deutschen. Bernard Pivot griff in seiner couragierten Literatursendung „Apothrophes“ Mitte der Neunziger endlich das Thema auf. Wir sahen diese Sendung in Hamburg und fanden das sehr mutig von ihm.

Übrigens war ich nie in dem Dorf. Es wäre ein Alptraum, der mich verfolgen würde. Nach der Besichtigung von Buchenwald brauchte ich lange Zeit, um die Bilder vor dem Einschlafen loszuwerden. Meine Phantasie reicht aus, um mir den Horror vom 10. Juni 1944 in diesem Dorf vorzustellen.

Spuren des Alltagslebens: Der Peugeot des Weinhändlers Henri Texerau auf dem Marktplatz vor seinem Haus. Eigentlich war er nur kurz zum Mittagessen nach Hause gekommen und wollte danach noch Kunden besuchen.

Foto: Martin Graf